Das Wissen der Vergangenheit für die Zukunft nutzen
Wer über die Autobahn A4 nach Wien fährt, kann sie nicht übersehen: die ehemaligen Gasometer in Wien Simmering. Die vier zylindrischen, 70 Meter hohen Behälter mit einem Durchmesser von ca. 60 Metern wurden 1896 errichtet, um das im Gaswerk Simmering aus Kohle erzeugte Stadtgas für die spätere Verwendung zu speichern.
Das damalige Stadtgas unterschied sich vom heute verwendeten Erdgas erheblich in seiner chemischen Zusammensetzung. Vor allem wies es wesentlich höhere Wasserstoff-Anteile auf, als die heute noch für Erdgas zulässigen 4 % des Volumens. Vor der Erdgasumstellung wurden Gasgemische mit oftmals mehr als 50% Wasserstoff abgegeben. Der hohe Wasserstoffanteil war wichtig – er sollte nicht unter 26% sinken ‑, damit die „Zündwilligkeit“ des Gasgemisches erhalten blieb. Das Gasverteilungssystem und die Kundenendgeräte waren auf diese hohen Wasserstoffanteile ausgerichtet. Im Zuge der Erdgasumstellung in den 1970er-Jahren wurde es dann nötig, die alten, nur für Stadtgas geeigneten Kundengeräte zu ersetzen oder mit Umbausätzen auszustatten, so dass auch Erdgas verwendet werden konnte. Gaskunden mit „nicht umbauwürdigen Geräten“ hatten Gelegenheit zu günstigen Konditionen neue Geräte zu erwerben.
Die Speicheranlagen in Simmering enthielten Stadtgas mit einem Wasserstoffanteil von mehr als 50% (Bildquelle: Wiener Netze GmbH).
Wasserstoff wird Erdgas beigemischt
Gegenwärtig bereitet sich die Gaswirtschaft auf eine neue Herausforderung vor: die Umstellung auf Grüne und Erneuerbare Gase. Bis 2050 sollen klimafreundlichen Gase die Sektorkopplung ermöglichen und die Energiebedürfnisse von Haushalten und Industriebetrieben abdecken sowie im verstärkten Ausmaß auch für Mobilitätszwecke eingesetzt werden.
Diese Neuausrichtung der Gaswirtschaft wird es mit sich bringen, dass die Wasserstoffanteile im Gasnetz wieder steigen. Dabei kann man zum einen auf historischen Erfahrungen mit hohen Wasserstoffanteilen im Gas, wie es sie vor der Erdgasumstellung gegeben hat, aufbauen. Zum anderen hat die ÖVGW eine Forschungsinitiative gestartet, mit der aktuell die technischen Grundlagen für die Erzeugung und die Einspeisung von klimafreundlichem Wasserstoff in das Gasnetz erstellt werden.
10% Wasserstoff bereits jetzt möglich
Zusammen mit dem Deutschen Brennstoff-Institut – DBI hat die ÖVGW 2019 eine Untersuchung zu der Frage durchgeführt, ob die Erhöhung des Wasserstoffanteils zulässig ist. Die Ergebnisse zeigen, dass Blending – also das Vermischen von Gasen – bis zu einem Wasserstoffanteil von 10% problemlos möglich ist. Alle Bauteile der Gasinstallation sind unter einem 10 %- Volumenanteil Wasserstoff im Erdgas voll funktionsfähig und sicher.
In den nächsten Jahren wird die ÖVGW in ihrem Gas-Regelwerk höhere Wasserstoffanteile berücksichtigen und verbindliche Qualitätsvorgaben für klimafreundlichen Wasserstoff festlegen. Die österreichische Gaswirtschaft hat es vor 50 Jahren geschafft, von Gasen mit hohen Wasserstoffanteilen, zu solchen mit sehr niedrigen zu wechseln. Nun macht man sich für den umgekehrten Weg bereit. Die technischen Erfahrungen aus der Zeit vor der Erdgasumstellung und die Aufzeichnungen darüber, wie ein derartiger Wechsel in organisatorischer und wirtschaftlicher Hinsicht durchgeführt werden kann, sind für das Vorhaben Gas „Grün zu machen“ eine wertvolle Hilfe.